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Kosmologen lassen sich die Kalte Dunkle Materie nicht wegnehmen: Facetten einer Debatte

19. November 2010

Vor einem Jahr wurde es hier schon einmal thematisiert: Gegen das in den vergangenen ~12 Jahren gewachsene Standard- oder Konkordanz-Modell der Kosmologie mit Dunkler Energie und Kalter Dunkler Materie als bei weitem dominanten Ingredienzien des Kosmos (daher auch die Kurzform LambdaCDM) stellen sich einige wenige Astrophysiker, die entweder ein grundsätzlich anderes Weltmodell vertreten oder im lokalen Universum so viele Probleme mit LambdaCDM sehen, dass sie dessen Erfolge im Rest des Kosmos für irrelevant halten. Ein Vertreter dieser Denkweise, Pavel Kroupa trat am 18. November bei einer öffentlichen Debatte an der Uni Bonn (oben) gegen Simon White an, der zunächst in einem rasanten Eröffnungsvortrag die Vorzüge von LambdaCDM preisen konnte: Egal wohin man im Kosmos schaut, immer passt nur dieses Weltmodell zu den Daten. Besonders krass ist dies bei den drei ersten akustischen Peaks des Powerspektrums der Kosmischen Hintergrundstrahlung vom WMAP-Satelliten, die massig nicht-baryonische Materie erzwingen. Aber auch das Strukturwachstum im sich entwickelnden Universum, die Massenprofile von Galaxienhaufen, die Halos von Galaxien: Immer passt’s. Fazit: Von 380’000 bis 13.7 Mrd. Jahren nach dem Urknall und auf Massenskalen von 10^7 bis 10^18 Sonnen gibt es „Beobachtungsbelege für eine unsichtbare Quelle von Schwerkraft“, die Kalte Dunkle Materie eben, bestehend aus bis jetzt noch hypothetischen WIMPs.

Die Kritik von Kroupa (Mitte) et al. bezieht sich weitgehend auf Probleme vom LambdaCDM in der lokalen Gruppe, was dank einer forschen Pressemitteilung eine Menge Echo in der Öffentlichkeit ausgelöst hat (z.B. hier, hier, hier und hier), während in Fachkreisen die Kritik beißend war (mehr, mehr und mehr). Auf der Skala von Galaxien mache LambdaCDM reihenweise falsche Voraussagen, während z.B. eine Modifikation der Newton’schen Schwerkraft im Sinne von MOND alles schön erklären könne. Beim großen Kosmos dagegen mußte Kroupa erhebliche Probleme eingestehen: Das Powerspektrum von WMAP kann z.B. nur erklärt werden, wenn man eine – nunmehr „Heiße“ – Dunkle Materie in Gestalt eines hypothetischen sterilen Neutrinos mit 11 eV Masse einführt. (Als einen von mehreren Sidekicks hatte Kroupa übrigens einen der Autoren eines ebenfalls kontroversen Papers mitgebracht, das kurzerhand die WMAP-Powerspektren für fragwürdig erklärt, was seinerzeit ein Bisschen Aufsehen erregt hatte, etwa hier, hier oder hier.) Und ob solch ein Kosmos so schön die heute beobachteten großskaligen Strukturen hervorbringen kann, ist schlicht nicht bekannt, weil die Rechnungen dazu noch komplizierter als LambdaCDM sind – und keiner da ist, sie zu machen, weil MOND-Anhänger angeblich nirgends Arbeit bekämen.

Nach den beiden Eröffnungsvorträgen à 25 Minuten plus 5 Minuten direkte Nachfragen konnte das durch einige Werbung angelockte Publikum im zum Bersten gefüllten Hörsaal (Panorama) der eigentlichen Debatte lauschen (von der es übrigens aufgezeichneten Live-Blog und eine darauf basierende Zusammenfassung gibt): Kroupa konstatierte, dass „wir nicht wissen, was die Realität ist“, uns aber von LambdaCDM verabschieden müssten, weil es im lokalen Universum nicht passt – da sei es schlicht egal, dass es im großen Kosmos funktioniert. White konterte, dass es genau umgekehrt sei: Dass man Details unserer besonders komplexen Nachbarschaft noch nicht erklären könne, sei nicht weiter tragisch. (Dass es da noch einiges nachzubessern gibt, sehen auch andere prominente Autoren – aber bitteschön auf dem Boden des anderswo so erfolgreichen Standardmodells.) Kroupa musste eingestehen, dass MOND genau so „exotisch“ wie LambdaCDM sei und ein davon regierter Kosmos gar „hässlicher“ – und schwerer zu berechnen. Auch dass man jenseits galaktischer Skalen doch ein spekulatives Teilchen (jenes 11-eV-Sterilneutrino) braucht, stört den einstigen Vorteil der Einfachheit, aber damals brauchte MOND auch nur die flachen Rotationskurven der Galaxien zu erklären.

Auf die Frage (dieses Bloggers), was für eine potenzielle Entdeckung der kommenden Jahre ihn zum Umschwenken zu LambdaCDM bewegen würde, antwortete Kroupa nicht, während umgekehrt White das Standardmodell sofort fallen lassen würde, wenn eine andere, einfachere Theorie die Entwicklung des Kosmos genau so gut erklären würde. Aber die sei nirgends zu erkennen. Sollte allerdings nicht bald ein passender WIMP-Kandidat nachgewiesen werden, dann sei das ein Problem. Kroupa fürchtet dagegen umgekehrt, dass genau ein solcher Kandidat gefunden und sogleich zu dem Dunkle-Materie-Teilchen erklärt würde: Das würfe die Astrophysik um 30 Jahre zurück. Da allerdings mischte sich sogar der Moderator ein: So naiv seien die Physiker nun auch wieder nicht. Fazit der zweistündigen Nachmittagsunterhaltung auf hohem Niveau: LamdaCDM steht immer noch exzellent da, aber die von den Kritikern aufgezeigten Probleme – über deren Schwere man sich in der kurzen Zeit dann doch keine eigene Meinung bilden konnte – sollten schon angegangen werden. NACHTRAG: Kroupas Slides sind verfügbar geworden. NACHTRAG 2: Inzwischen gibt’s die Präsentationen und die Debatte als Podcasts, auch eine Mini-Fassung und einen Vortrag von der AG-Tagung zur Standardkosmologie – und einen weiteren Blog-Beitrag, der die Sicht dieses Beobachters teilt.