Large Hadron Collider immer besser – und an der Schwelle zu „neuer Physik“?

Der Large Hadron Collider hat in den ersten drei Monaten („Immer neue Ergebnisse …“) mit 3.5 TeV/Strahl den gesamten bekannten Teilchenzoo wiederentdeckt, das Top-Quark inklusive, die ‚Leuchtkraft‘ konnte beständig gesteigert werden, und das Management gibt sich optimistisch, dass vor der nächsten längeren Abschaltung Ende 2011 oder Anfang 2012 genügend Kollisionsdaten gesammelt worden sind, um zu ’neuer Physik‘ der einen oder anderen Art vorzustoßen. Und dabei gibt es – zur Zeit jedenfalls noch – weiter einen regelrechten Wettlauf mit dem amerikanischen Konkurrenten Tevatron. Den würde das Fermilab gerne nach 2011 bis 2014 weiter betreiben, was allerdings 100 Mio.$ kosten würde, die bereits für andere neue Teilchenexperimente verplant sind. Doch es würde dann die vage Chance winken, dem LHC dessen populärstes Jagdziel, das Higgs-Boson, weg zu schnappen.

Gerade erst hat das Tevatron wieder ein wichtiges Nullresultat beigesteuert: Zwischen 158 und 175 GeV/c^2 Masse kann das Higgs nicht haben, womit es – andere Nichtnachweise hinzu genommen – in den Massenintervallen 114 bis 158 oder 175 bis 185 GeV liegen muss (wenn es denn existiert). Und die Tevatroniker glauben, dass sie mit den 65% mehr Daten, die sie bei einem Betrieb bis 2014 statt 2011 einfahren würden, das Higgs nachweisen könnten – und das knapp vor dem LHC. Dessen Leuchtkraft (und entsprechend Kollisionsrate) wird zwar laufend gesteigert, seit Ende März bereits um einen Faktor 1000, und seine Kollisionsenergie ist schon jetzt höher, aber das Tevatron – schon länger in voller Fahrt – hat einen Vorsprung. Auch aus LHC-Sicht gelten beide Beschleuniger die nächsten 2-3 Jahre als „komplementär“. Aber wann wird einer der beiden den ersten klaren Hinweis auf „neue“ Physik jenseits des Standardmodells finden?

Der Nachweis des Higgs wäre kurioserweise einfacher, wenn es im höheren Massenbereich läge: Oberhalb von 140 GeV würde es bereitwillig in Paare von Z- oder W-Bosonen zerfallen, die ein relativ klares Signal versprechen, ein leichteres Higgs zerfiele dagegen in b-Quarks, die sich kaum vom Hintergrund anderer Ereignisse abheben. Im ersteren Fall könnte dem LHC der Nachweis schon nach einem Jahr gelingen, im anderen kann es auch 5 Jahre dauern. Auch Hinweise auf Supersymmetrie oder zusätzliche Raumdimensionen werden vermutlich mehrere Jahre auf sich warten lassen, aber es gibt noch andere Kandidaten, die schon viel früher auftreten könnten. Besonders exotisch dabei die spekulative Möglichkeit, dass bei hohen Energie die Anzahl der Raumdimensionen abnimmt, was sich ziemlich klar in dem Muster verraten würde, in dem Kollisionsprodukte auseinander fliegen.

Wann die große Abschaltung des LHC für umfangreiche Nachbesserungen beginnt, die dann einen Betrieb mit den vollen 7 TeV pro Strahl ermöglichen soll, steht noch nicht fest: irgendwann nach 18 bis 24 Monaten Betrieb bei 3.5 TeV, wenn „ein inverses Femtobarn“ Kollisionsdaten im Kasten sind. Aber es ist inzwischen klar, dass sie dann wohl 15 Monate dauern wird, weil nicht nur unzählige Schweißnähte erneuert werden müssen sondern auch noch andere Arbeiten nötig sind. Nicht nur der LHC, auch andere große CERN-Experimente werden in dieser Zeit ruhen: Sämtliche Arbeitskraft wird für den LHC gebraucht. Ende 2015 wird der LHC ein zweites Mal abgeschaltet, um ihn noch leistungsfähiger zu machen, für einen Betrieb des „Super-LHC“ bis 2030.

Tevatron Collabs., Preprint 26.7.2010; CERN Tweet 9., CERN Bulletin 2.8., CERN, STFC Releases 26., CERN Bulletin 5.7., CERN Tweet 28.6.2010; Science 30.7.2010 S. 498-9; Ars Technica 11., Cosmic Variance, Spektrum Direkt, Discovery 10., Nature 4., BBC, Ars Technica 2., Science 2.0 1.8., Science Blogs 30., Ars Technica, Science Blogs, Reuters, Spiegel 28., Astronomy Now 27., Physics World, Science 2.0, Science Journalism Tracker, Spiegel 26., Science 2.0 21., Nature 20., Science 2.0 17., BBC 14., New Scientist Blog 13., Discovery, Telegraph 12., Science 2.0 8., New Scientist 7.7., Discovery 29., BBC 28.6.2010. Und: wie der LHC-Strahl klingt (wenn er die Wand trifft) sowie die Sonfikation der Kollisionsdaten, auch hier, hier und hier beschrieben

Was nach dem LHC kommt, wird schon eine Weile vorbereitet, aber über den Weg wird keinesfalls entschieden, bevor der LHC klar gemacht hat, was es in seinem Energiebereich Neues zu entdecken gilt. Auf jeden Fall soll es ein Leptonen-Collider sein, der klarere Ergebnisse als ein Hadronen-Collider verspricht, weil dort Partikel kollidieren, die aus jeweils mehreren Quarks bestehen. Die Wahl muss zwischen dem International Linear Collider (ILC), der technologisch weniger anspruchsvoll aber auch leistungsschwächer wäre, und der Alternative Compact Linear Collider (CLIC) getroffen werden: Lange ‚bekämpften‘ sich beider Arbeitsgruppen, allmählich kommt man sich aber näher – und der LHC-Nachfolger dürfte das erste echte globale Collider-Projekt werden. Mit einer Fülle von administrativen Problemen, die neben den technischen auch noch gelöst werden müssen. (Physics Today Juli 2010 S. 22-4, auch Symmetry, Science Blogs, New Scientist)

Neuer Dunkle-Materie-Detektor wird in Sudbury installiert

Diesen Monat wird eine 4-kg-Blasenkammer, später im Jahr dann eine mit 60 kg, im Sudbury Neutrino Observatory in Untergrund Kanadas aufgestellt: Dies gilt als bisher anspruchsvollster Versuch, die mutmaßlichen Weakly Interacting Massive Particles, die für die DM des Kosmos verantwortlich sein dürften, direkt nachzuweisen. Und zwar mit einer Variante der klassischen Blasenkammer – und dem Hinweis, dass es bis zu einem zweifelsfreien WIMP-Nachweis ein Jahrzehnt dauern kann. (Univ. of Chicago Press Release 11.8.2010. Auch BBC zu Überlegungen, den CDMS-II-Detektor ebenfalls ins SNOLab zu schaffen, und Physics World zu positiven WIMP-Detektionen [„Auf der Jagd …“], die einfach nicht verschwinden wollen) NACHTRAG: ein Review der DM-Jagd im Untergrund. NACHTRAG 2: ein langer Artikel zu SNOLAB.

Gibt es Unterschiede zwischen Neutrinos und Antineutrinos? Laut dem Standardmodell der Teilchenphysik nicht, aber gleich zwei Experimente, MINOS und MiniBooNE, haben unlängst soetwas angedeutet, aber mit keiner besonders hohen Signifikanz: Gesehen wurden unerwartete Effekte bei Messungen von Neutrinooszillationen, die als Massendifferenz zwischen Neutrino und Antineutrino interpretiert werden könnten. Auch das hypothetische sterile Neutrino könnte eine Rolle spielen. (STFC Release 14., IU News 24.6.2010; Ars Technica, Nature Blog 14., New Scientist 16., Physics World 18., Physics World Blog 21., Science Journalism Tracker 28.6., Science News 17.7.2010)

Eine Obergrenze der Neutrino-Massen von 0.28 eV aus der Astrophysik ist die beste überhaupt: Sie ergibt sich aus der Kombination eines Katalogs von über 700’000 Galaxien mit photometrischer Rotverschiebung mit diveren anderen kosmologischen Daten. Auch kein Laborverfahren kann es genauer – und nun sieht man auch warum: Weder die gegenwärtige noch die nächste Generation von Experimenten wird genau genug sein, um derart geringe Massen zu sehen. Und zur Dunklen Materie des Kosmos tragen Neutrinos nicht einmal 1% bei. (Thomas et al., Preprint 20.5., UCL News 22.6., APS Release 12.7.2010; BBC 22., Universe Today 23.6.2010)

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5 Antworten to “Large Hadron Collider immer besser – und an der Schwelle zu „neuer Physik“?”

  1. Nachrichten aus der Physik kompakt « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] kollidieren im Large Hadron Collider bereits 5-6 Mio. Teilchen pro Sekunde, eine gute Marke auf dem Weg zu den 600 Mio./s, für die der […]

  2. Im LHC kollidieren jetzt Ionen von Blei (ein explosives Zwischenspiel bis zur Winterpause) « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] an Neutrinos. Dass sich Neutrinos und ihre Antiteilchen unterschiedlich verhalten, hatten wiederum andere Daten MiniBooNEs (“Gibt es Unterschiede …?”) wie auch des MINOS-Experiments angedeutet. Die neuen […]

  3. Und wo steckt sie nun, die Dunkle Materie …? « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] Standardmodells, in den kommenden 5 bis 10 Jahren schlägt. Entscheidend wird dabei sein, ob der Large Hadron Collider wirklich „neue Physik“ bei seinen Proton-Proton-Kollisionen mit 7 oder spätestens 14 TeV Zentrumsenergie zu Tage […]

  4. Es war ein gutes Jahr für den LHC, das nächste wird noch besser – und vielleicht werden’s gleich drei « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] preis zu geben: In den sieben Monaten Protonen-Kollisionen 2010 sind bereits alle fundamentalen Entdeckungen der Teilchenphysik nachvollzogen worden, aber mit den zusätzlich 2011 zu erwartenden Kollisionsdaten muss es einfach in Richtung […]

  5. Dunkle Materie direkt detektieren: Durchbruch (bald)? « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] des MPK zu >Präzisionsmessungen, die einmal bei der Klärung der Frage helfen sollen, ob das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ["Gibt es …"] ist, und zum Befüllen des […]

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