Bis auf einen formellen Widerruf der angeblich leicht überlichtschnellen Neutrinos des OPERA-Experiments ist in März alles zusammen gekommen: Ein anderes Experiment hat eindeutig gezeigt, dass Neutrinos exakt lichtschnell sind, bei OPERA hat man die Fehlerquelle eindeutig identifiziert, die die Überlichtgeschwindigkeit vortäuschte, und damit zugleich ebenfalls die exakte Lichtgeschwindigkeit von Neutrinos bestätigt – und zwei Sprachrohre des vermeintlichen OPERA-Mysteriums sind von ihren Positionen zurück getreten, nachdem sie im Team erheblicher Kritik ausgesetzt waren und nach eigener Erkenntnis das Vertrauen vieler Kollegen verloren hatten. Offen sind jetzt nur noch Fragen, wie der Fehler jahrelang(!) übersehen werden konnte, ob die Veröffentlichung des Pseudo-Mysteriums letzten September gerechtfertigt war oder nicht – und ob die Aufklärung, die OPERA-intern schon letzten Dezember gelang, zu Unrecht noch mehrere Monate lang geheim gehalten wurde, während unabhängige Praktiker wie Theoretiker weiter Zeit mit der Suche nach vermeintlichen Erklärungen verschwendeten; noch jetzt tauchen entsprechende Papers auf.
Seit irgendwann 2008 – 2007 war das Timing nachweislich noch einwandfrei – ist ein Glasfaserkabel zur Übertragung von Laserpulsen für die Zeitmessung nicht mehr komplett eingeschraubt gewesen: Es leitet Zeitsignale eines GPS-Empfängers außerhalb des Gran-Sasso-Tunnels 8.3 km weit bis zur Master-Clock von OPERA. Durch den schlechteren Anschluss baute sich eine elektrische Spannung in einem Konverter langsamer auf als vorher und eine Verzögerung des Zeitsignals von rund 75 Nanosekunden entstand – wodurch die Neutrinos vom CERN entsprechend zu früh anzukommen schienen. Ein zweites Problem mit einem Oszillator der Master-Clock spielte gegenüber der Kabel-Panne nur eine untergeordnete Rolle. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände trat bei den Spezialexperimenten mit Neutrinopulsen genau derselbe Zeitfehler auf, so dass die Überlichtgeschwindigkeit scheinbar perfekt bestätigt wurde. Vielleicht was es das, was das OPERA-Management derart in die Irre führte, dass man die Suche nach simplen Fehlerquellen im Experiment zunächst hintanstellte. Auch hatte man viel damit zu tun, auf komplexe Fehlerszenarien einzugehen, die von Aussenstehenden postuliert und in einer Flut teilweise agressiver Papers vorgetragen wurden.
Erst Tests an der Hardware letzten Dezember und der Vergleich mit einem weiteren Teilchenexperiment im Gran-Sasso-Tunnel (dem Myonen-Detektor LVD) brachten die Physiker schließlich auf die rechte Spur: Das Kabel wurde neu eingesteckt und der Zeitfehler verschwand mit einem Schlag. Praktisch zeitgleich mit einem anderen Neutrinodetektor, ICARUS mit 7 exakten Neutrino-Flugzeiten, waren sie nun sicher, dass allein das Glasfaserkabel an allem schuld war; die ICARUS-Forscher publizierten aber schneller, am 16. März, während OPERA bisher nur auf einem internen Workshop am 28. März berichtete. Am Ende der Affäre bleibt die Aufklärung des vermeintlichen Mysteriums durch die Experimentatoren selbst und zugleich die Frage, warum man nicht vor seiner Bekanntgabe viel gründlicher alle technischen Aspekte von OPERA überprüft hatte – dass die Steckverbindung schwer zugänglich und leicht zu ‚übersehen‘ war, entschuldigt da wenig … Strassler, Artikel „What went wrong“ 2.4., Ereditato, Le Scienze 30., Antonello et al., Preprint 29.3.2012; Discovery, Strassler Blog 5., Science 2.0 4., New Scientist 3., Strassler Blog, Nature, Kirilliov & Savelova, Preprint (ernstgemeint?) 2.4., Strassler Blog, Physics World, Nature Blog, New Scientist, BBC, AFP, Rtr., Spiegel 30., CERN Release, Nature, Science 2.0, Ars Technica, Cosmic Variance, Scientific American, BBC, Starts with a Bang, New Scientist Blog, Spiegel 16., Nature, Quantum Diaries 7.3., SkepticBlog 27., New Scientist, FAZ 24., KosmoLogs, ScienceBlogs 23.2.2012
Zweites Experiment bestätigt großen dritten Neutrino-Mischungswinkel
Knapp nach den Chinesen haben koreanische Physiker mit dem Reactor Experiment for Neutrino Oscillations (RENO) anhand zweier Detektoren in 290 und 1400 m Abstand von einem Komplex aus sechs Kernkraftwerken praktisch dasselbe Theta-1-3 gemessen: abermals also frohe Kunde für die Neutrinophysik, die damit interessanten künftigen Experimenten entgegen blicken kann. (Interactions, Symmetry Breaking 4.4.2012. Und Science 30.3.2012 S. 1553 und Nature 26.3., Science 2.0 4.4.2012 zur fehlenden Finanzierung des amerikanischen Long-Baseline Neutrino Experiments. Plus NSF Release 2.4. zur Bestimmung der Masse der Neutrinos aus der großräumigen Verteilung von Galaxienhaufen, die sich wiederum negativ in der CMBR bemerkbar machen)
Die erste Übertragung einer „Nachricht“ mittels Neutrinos ist in den USA gelungen – durch 240 Meter Fels, mit 0.1 Bit pro Sekunde und einer Fehlerquote von unter 1%. Das Wort „Neutrino“ kam nach zwei Durchgängen von zusammen140 Minuten tatsächlich zuverlässig an – aber für einen operationellen Einsatz (etwa zur Kommunikation mit Ubooten) fehlen ebenso leistungsfähige „Sender“ wie ausreichend empfindliche „Empfänger“. Und die prinzipiellen physikalischen Hürden sind viel höher als beim normalen Funk, wo den ersten Laborerfolgen rasch der praktische Nutzen folgte. (Stancil & al., Preprint 13.3.2012; Symmetry Breaking, Nature, Ars Technica, ArXiv Blog)
Im LHC wird wieder kollidiert – jetzt mit 8 TeV Energie
Seit dem Morgen 5. April läuft der Large Hadron Collider nach der langen Winterpause wieder, mit zwei gegenläufigen Protonenstrahlen – und Kollisionen in den vier großen Detektoren. Aber diesmal beträgt die Energie pro Strahl 4 statt bisher 3.5 TeV: Erst im März hatte man sich endgültig zu diesem kleinen aber für die Statistik wichtigen Schritt durchgerungen, der die komplexe Technik des Beschleunigers mehr fordert. Bis Jahresende sollen 15 inverse Femtobarn eingefahren sein, gegenüber den 5 bisher: Je nach Optimismus wird bereits im Sommer oder spätenstens Winter endgültig klar sein, ob es denn nun ein – klassisches – Higgs-Teilchen bei rund 125 GeV Masse gibt oder nicht (beide Positionen werden aus der bisherigen Datenlage abgeleitet). Unbestritten ist bisher nur, dass der LHC bis Ende 2011 keinerlei nennenswerte „neue Physik“ gefunden hat, und der Ruf ist bereits laut geworden, mehr Kollisionsdaten als bisher zu speichern, um auch noch exotischeren Prozessen suchen zu können: Das allerdings gibt die Datentechnik gar nicht her. (CERN Release 5.4.2012; IBTimes 6., Resonaances, Quantum Diaries [mehr], BBC, Cosmic Variance 5., Telegraph, Starts with a Bang 3., Washington Post, Cosmic Variance 2.4., Quantum Diaries 27., Nature 21., Giardino & al., Preprint 19., New Scientist, Quantum Diaries, BdW 16., Vasquez & al., Preprint, Physics World, Science Journalism Tracker 15., Resonaances, Hephy 14., Physics 13.3.2012)
Das AMS auf der ISS hat schon 14 Mrd. Teilchen Kosmische Strahlung gemessen, aber frühestens in einem Jahr wird man Details erfahren: Vorläufige Ergebnisse gibt’s keine, Punkt. Muss man sich eben mit dem Ballon-Experiment BESS begnügen, das neue Obergrenzen für die Existenz von Antihelium im Weltraum geliefert hat. (Nature 31., Physics 29.3.2012. Auch NASA Release 2.4.2012 zu neuen Einschränkungen der Natur der Dunklen Materie über die Nichtdetektion von Zwerggalaxien durch Fermi und Nature 3.4.2012 zu „billigen“ Experimenten für die Jagd nach ‚dunklen Photonen‘ …)