Posts Tagged ‘OPERA’

Zwei Fehlerquellen bei OPERA entdeckt – und sie könnten Neutrinos schneller aber auch langsamer erscheinen lassen!

23. Februar 2012

Entgegen manch vorschneller Meldung ist sind die „überlichtschnellen Neutrinos“ des OPERA-Experiments keineswegs eindeutig ad acta gelegt worden: Bei den emsigen Überprüfungen des hochkomplexen Experiments im Gran-Sasso-Tunnel sind vielmehr kürzlich zwei mögliche Fehlerquellen entdeckt worden – aber sie haben unterschiedliche Vorzeichen. Ergo kann es nach gegenwärtigem Kenntnisstand ebenso gut möglich sein, dass die Neutrinos genau so schnell wie das Licht vom CERN nach Italien reisen – oder aber, dass sie sogar noch mehr als die bislang immer wieder gemessenen 60 Nanosekunden ‚Vorsprung‘ vor einem hypothetischen Lichtquant auf gleicher Strecke haben. Erst neue Messungen mit den speziell hergestellten superscharfen CERN-Neutrino-Pulsen sollen Klarheit schaffen – aber das ist vor Mai nicht möglich. „The OPERA Collaboration, by continuing its campaign of verifications on the neutrino velocity measurement, has identified two issues that could significantly affect the reported result“, heißt es in einer Mitteilung des Experiments: „The first one is linked to the oscillator used to produce the events time-stamps in between the GPS synchronizations. The second point is related to the connection of the optical fiber bringing the external GPS signal to the OPERA master clock. These two issues can modify the neutrino time of flight in opposite directions.“

Dass ein falsch eingestecktes Glasfaser-Datenkabel den 60-ns-Fehler verursacht habe und man den Fall nunmehr zu den Akten legen könne, ist also schlicht falsch: Die Überschrift „‚Faster than light neutrinos‘ could be slower… or faster… than thought“ des britischen Science & Technology Facilities Council trifft es hingegen genau. Auch CERN – nicht direkt für OPERA verantwortlich und eigentlich nur der ‚Neutrinospender‘ – hat sich geäußert: „The first possible effect concerns an oscillator used to provide the time stamps for GPS synchronizations. It could have led to an overestimate of the neutrino’s time of flight. The second concerns the optical fibre connector that brings the external GPS signal to the OPERA master clock, which may not have been functioning correctly when the measurements were taken. If this is the case, it could have led to an underestimate of the time of flight of the neutrinos.“ INFN, CERN, STFC Releases, Strassler, Physics World, IO9, New Scientist, Reuters, BBC, Quantum Diaries, Welt der Physik, ProPhysik, DLF, BdW, Spiegel 23., Nature Blog, Reuters, New Scientist Blog, Cosmic Log, CBC, Starts with a Bang, Science Insider, Ars Technica, Cosmic Variance 22., Boyle Tweet 17.2., Ars Technica, APS TwitterPic 6., New Scientist 4.1.2012, Centauri Dreams 28., WUStL PR 23., Nature 21., New Scientist Blog 8.12.2011

Rasende Neutrinos schaffen neuen OPERA-Test

5. Dezember 2011

Nur 20 eindeutige Neutrinos aus dem CERN hat der OPERA-Detektor im Gran-Sasso-Tunnel während der Sondermessungen mit den scharfen Pulsen vom 22. Oktober bis 6. November einfangen können, aber diesmal war von jedem die Abflugszeit auf 3 Nanosekunden genau bekannt: Und wieder kamen sie 62±4 Nanosekunden ‚zu früh‘ an, konsistent mit dem 58±8 ns Verfrühung der 10 ms langen Neutrinopulse im regulären Experiment mit 15’233 detektierten Neutrinos. An falscher statistischer Analyse von deren Pulsform liegt die vermeintliche leichte Überlichtgeschwindigkeit der OPERA-Neutrinos also nicht. Der restliche Versuchsaufbau und der Gang der Auswertung waren bei dem Sondertest natürlich unverändert: Wenn z.B. – das bleibt der häufigste Verdacht – etwas mit der Synchronisation der Uhren bei CERN und OPERA nicht stimmt oder bei der Berücksichtigung von Signallaufzeiten in langen Kabeln, hätte dies wieder zum selben Phantom-Effekt geführt. Anhand der detaillierten Versuchsbeschreibung im jetzt zur Veröffentlichung eingereichten Paper hat bislang niemand Außenstehender einen offensichtlichen Fehler gefunden, während sich im OPERA-Team inzwischen die meisten mit dem kuriosen Ergebnis abgefunden und das Paper unterzeichnet haben. Ihnen ist aber genauso wie dem Rest der physikalischen Gemeinde klar, dass erst eine unabhängige Messung des Effekts mit einem ganz anderen Experiment aus der (immerhin 6.2 Sigma großen) Anomalie eine Entdeckung – dann freilich epochalen Ausmaßes – machen würde.

Beim vergleichbaren US-Experiment MINOS werden entsprechende Präzisionsmessungen der Neutrino-Flugzeiten bereits emsig vorbereitet, und es könnte schon in ein paar Monaten (nach anderen Quellen: im Sommer 2012) Ergebnisse geben, während möglicherweise auch das japanische Experiment T2K – mit leiderer kürzerer Flugstrecke seiner Neutrinos – ausreichend genau messen können wird. Und was, wenn MINOS et al. OPERA am Ende klar widerlegen? Dann wird es vielleicht für immer unklar bleiben, was dessen Anomalie zu verantworten hat, wie schon bei so manchem von der Geschichte überrollten physikalischen Sensationsexperiment. Es kann etwas furchtbar simples und zutiefst Menschliches sein, was da schief gelaufen ist, vielleicht nicht mehr als ein Zahlendreher beim Aufsummierungen all der technischen Signalverzögerungen … Science 2.12.2011 S. 1200-1; Symmetry Breaking 1.12., DLF 28., Physics World 22., AstroBites, New Scientist Blog, Telegraph 21., Reuters 20., Telegraph 19., STFC Release, Interactions, Physics World, NYT, Nature Blog, BBC, Guardian, Starts with a Bang, Universe Today, Principles, Wired (mehr), AFP, New Scientist, Science Journalism Tracker 18., revidiertes OPERA-Paper, Symmetry Breaking, Science Insider, Quantum Diaries, Cosmic Log 17.11.2011. Und ein Experiment-Vorschlag zum Nachweis steriler Neutrinos

Die nächste Beinahe-Entdeckung des Higgs (bei 125 GeV)

wird womöglich am 13. Dezember in Genf verkündet: Da werden die Teams der beiden LHC-Hauptdetektoren ATLAS und CMS ihre Ergebnisse des kollisionsreichen Jahres 2011 präsentieren – und mehrere einschlägige Physikblogs haben bereits erfahren, dass beide ein mutmaßliches Signal des Higgs-Teilchens bei 126 GeV (ATLAS, mit 3.5 Sigma) bzw. 124 GeV (CMS, mit 2.5 Sigma) sehen. Das wäre im physikalischen Sprachgebrauch eine „Beobachtung“ aber noch lange keine „Entdeckung“, die 5 Sigma Signifikanz erfordert. Zu diesen Gerüchten passt auch ein geleaktes Rundschreiben des CERN-Chefs, wonach man am 13. zwar von „signifikantem Fortschritt auf der Suche nach dem Higgs“ hören werde aber kein eindeutiges Statement über seine Existenz oder Nichtexistenz. Immerhin hätten die ATLAS- und CMS-Detektionen zusammen eine Signifikanz von etwa 4.3 Sigma, doch von einer präzisen Zusammenführung beider Messungen von insgesamt 10 inversen Femtobarn Kollisionen („Die Proton-Proton-…“) ist man noch weit entfernt.

Im November war eine solche gemeinsame Analyse immerhin für die Kollisionen bis zum Sommer präsentiert worden: Der Energiebereich 141 bis 476 GeV ist demnach mit mindestens 95% Sicherheit ausgeschlossen und der Großteil von 146 bis 443 GeV zu 99%, während Energien bis 132 GeV hinab noch zu 90% ausgeschlossen waren. Damit war eigentlich nur noch der Bereich 114 bis 132 GeV als ‚Rückzugsgebiet‘ für das Higgs übrig geblieben: Sollte es dort tatsächlich residieren, würde dies auch den meisten Erwartungen entsprechen – und würde den Freunden der Supersymmetrie (für die der LHC noch gar keine Hinweise fand) einigen Spielraum lassen. (Nature, Strassler Blogs 4., Strassler Blog 3., Vixra, Woit, MOTLS Blogs, Wired, Quantum Diaries [mehr] 2., BBC, Guardian, Telegraph, Physics World 1.12., Woit Blog 30., Space.com, NYT 28., CERN Courier, Quantum Diaries, Reuters 23., Physics World Blog, BdW, MPG-Interview 22., ATLAS = CMS Joint Analysis, Nature, Woit Blog, Quantum Diaries 18., Telegraph, LiveScience 17., Giudice, Preprint 15.11.2011. Und eine PM des PSI zur Nichtbeobachtung sehr seltener Zerfälle, was zum Standardmodell passt)

Die astronomische Beobachtung zerfallender Teilchen der Dunklen Materie bleibt widersprüchlich, zeigen gleich drei Ergebnisse zu diesem Labor-Nachweis-Versuchen komplementären Weg: So hat der Satellit Fermi zwar den Positronen-Überschuss PAMELAs bestätigt („Der Satellit …“) – aber diese vermeintlichen Produkte der gegenseitigen Vernichtung von DM-Teilchen sieht er auch bei viel größeren Energien, was für enorme Massen und damit eher eine andere Erklärung spricht. Mit Fermi wurden auch etliche Zwerggalaxien betrachtet und dort nur geringe Gamma-Strahlung festgestellt: Wenn diese bei der gegenseitigen Vernichtung von DM-Teilchen untereinander entsteht, müssten diese rar und mithin (nach einer Analyse-Methode jedenfalls) mindestens 40 GeV schwer sein, um zusammen den in den Galaxien beobachteten Gravitationseffekt auf zu bringen – im Widerspruch zu den angeblichen 3 Labornachweisen von DM-Teilchen mit deutlich geringeren Massen. Und das Ballon-Experiment ARCADE hat wiederum angebliche Radiostrahlung von DM-Vernichtungsprodukten in den Magnetfeldern von Galaxienhalos gesehen, die immerhin zu den Teilchenmassen der 3 Laborexperimente passen würde. (Kavli Release [mehr] 28., Brown Univ. Release 23.11.2011; Nature Blog, LA Times 2., Physics World 1.12., Space.com 30., New Scientist 29., Science Now 22.11.2011. Und ein ASPERA Release zu Forderungen der Astro-Teilchenphysik)

OPERAs Neutrino-Raserei schon durch Daten von anderem Experiment ICARUS widerlegt?

19. Oktober 2011

Rund 100 Papers machen bereits die Runde, die die wunderlichen Messungen der überlichtschnellen Neutrinos des OPERA-Experiments entweder per se in Zweifel ziehen (so wird mal wieder die Synchronisation der Atomuhren an beiden Enden der Neutrinostrecke in Zweifel gezogen; die OPERA-Autoren giften zurück), oder sie ernst nehmen und in fantasievolle Erweiterungen der Physik einbauen – oder aber andere Messungen heran ziehen, um eine Überlichtgeschwindigkeit von Neutrinos prinzipiell zu verbieten. Eine dieser Arbeiten erregt jetzt besonderes Aufsehen, denn sie stellt bereits einen konkreten experimentellen Test der schon im letzten Neutrino-Update erwähnten Hypothese dar, dass Neutrinos mit v>c durch einen der Cherenkov-Strahlung ähnlichen Effekt rasant Energie verlieren und Elektron-Positron-Paare sowie Gammastrahlung produzieren müssten. Anhand bereits vorhandener Messungen des Neutrino-Experiments ICARUS kann nun – trotz schlechterer Statistik als bei OPERA – klar gezeigt werden, dass all diese Effekte nicht auftreten: Die Neutrinos kommen genau so an, wie sie auf die Reise geschickt wurden.

Um dies als fatale Widerlegung des OPERA-Resultats zu akzeptieren, muss man natürlich zuerst das theoretische Quasi-Cherenkov-Paper ernst nehmen, das sich in der Fachwelt immerhin großer Popularität erfreut. Und der Fehler, den OPERA dann gemacht haben müsste, ist scheint’s immer noch in keiner Weise dingfest gemacht – inzwischen sind sogar schon die Autoren mancher Anti-OPERA-Papers in die Kritik geraten, weil sie ohne nähere Sachkenntnis die Scharen von Experimentalphysikern hinter OPERA als Idioten erscheinen ließen … ICARUS Collob., Preprint 17.10.2011; Physics World, LiveScience, Science Journalism Tracker 19., Science 2.0, Starts with a Bang, Science News 18., Science Journalism Tracker 17., Principles 16., Neues Deutschland 15., ArXiv Blog, Science Journalism Tracker 14., Scientific American 13., Discovery, New Scientist Blog 12.10.2011 – und Berg & Höflich, Preprint 13.10.2011 mit den ersten Übungsaufgaben zu den flitzenden Neutrinos sowie USA Today 9.10.2011 zu Unphysikern, die auch was glauben sagen zu müssen … Auch ASPERA Press Release 18.10.2011 zu Plänen für ein neues europäisches Neutrino-Observatorium, LAGUNA, und University of Arizona Press Release 12.10.2011 zum Quadrupolmoment des Deuterons und Zeitumkehr

Der Large Hadron Collider hat 5 inverse Femtobarn geschafft

bzw. sollte diesen Meilenstein – der 350 Billionen beobachteten Proton-Proton-Kollisionen entspricht – in diesem Tagen gleichzeitig in den beiden Hauptdetektoren ATLAS und CMS erreichen. Damit hat der LHC, der seine Leuchtkraft stetig gesteigert hat, allein zwischen diesem März und Oktober 99.3% all seiner Daten produziert, 2010 hat man quasi nur geübt. Jetzt aber nähert man sich bedenklich einem Datenstand, der klare Aussagen über die Existenz oder Nichtexistenz des Higgs-Teilchens erlauben sollte, und die Nervosität bei ATLAS wie CMS und Lauststärke der Gespräche in der CERN-Cafeteria sollen schon deutlich zugenommen haben. Bis auf wenige Nischen im Parameterraum kann das Higgs bereits ausgeschlossen werden (ein schöner Vergleich: ein Teich, bei dem immer mehr Wasser abgepumpt wird, bis bloss noch ein paar Pfützen bleiben), aber immerhin sind auch solche Energiebereiche dabei, wo es die Theoretiker eh‘ vermuten: Nichts genaues weiß man also nicht … (Quantum Diaries 14., Univ. of TX Release, Tagesschau 13., Der Westen 12., Guardian [NZ Herald], Quantum Diaries 9.10., Welt der Physik 27.9.2011. Auch Quantum Diaries 11.10.2011 zu einem wichtigen Versuch auf dem Weg zu einem Myonen-Collider und Nature News 10.11.2011 zum – umstrittenen – Bau von SuperB für die B-Mesonen-Produktion in Italien)

Kommt ein dritter Detektor von LIGO nach Indien? Nachdem sich Australien finanziell außer Stande sieht, ein drittes Rieseninterferometer für die Detektion von Gravitationswellen zu unterstützen, das die beiden in den USA (und weitere kleinere auf der Welt) ideal ergänzen würde, setzen sich jetzt indische Physiker massiv für das Projekt ein. Dort gibt es bereits ein Konsortium namens IndIGO von 11 Institutionen, die sich der G-Wellen-Forschung verschrieben haben, und man ist zuversichtlich, der Regierung das nötige Geld für den LIGO-Einstieg abhandeln zu können. Die Zeit drängt allerdings: LIGO will eine Entscheidung bis zum 31. März 2012. (Nature Blog 18.10.2011)

Neutrino-Raserei weiter rätselhaft: Fehler subtil?

8. Oktober 2011

Auch zwei Wochen nach der Veröffentlichung der vermeintlich überlichtschnellen Neutrinos gibt es keine heiße Spur, was da wohl – wie das Gros der Physiker weiterhin vermutet – schief gegangen ist. Einerseits hat sich die – in der Kollaboration ziemlich umstrittene! – Vorgehensweise von OPERA bewährt, mit dem Rätsel an die wissenschaftliche Öffentlichkeit zu gehen: Drei Dutzend Papers hat sie schon provoziert, darunter viele wilde theoretische Spekulationen, wie man Neutrinos, die etwas schneller als Photonen sind, in die Physik einbauen könnte, ein paar Arbeiten mit fundamentalen Einwänden (etwa dass superluminale Neutrinos eine Art Cherenkov-Strahlung aussenden und reichlich Energie verlieren sollten) und auch die ersten, die konkrete Zweifel am Experiment und seiner Interpretation anmelden. Zum Beispiel was Details der Neutrinopulse betrifft, die viel länger sind als die behaupteten 60 ns Zeitdifferenz, oder die Synchronisation der Uhren auf beiden Seiten. Gerade letzteres viel beachtetes Paper zeigt aber auch die Grenzen der externen Diskussion über subtile Details eines physikalischen Experiments: Der Autor nahm an, er habe die Synchronisierungsmethode verstanden, und zog sie dann geradezu genüsslich in Zweifel – aber er hatte sich geirrt.

Das Originalpaper von OPERA soll nun klarer beschreiben, wie’s gemacht wurde, und der Chef der Kollaboration sieht weiterhin keine offensichtliche Erklärung für das Mysterium. Noch ist diese Arbeit nicht bei einer richtigen Zeitschrift eingereicht worden, und wann es so weit ist, darüber wird bei OPERA noch heftiger gestritten als über den ersten informellen Gang in die Öffentlichkeit: Schon dem hatte sich eine Minderheit verweigert, gegen die formelle Publikation wendet sich schon rund die Hälfte der etwa 160 Physiker. Und man streitet sich auch, ob man die Neutrino-Zeitmessung jetzt mit Macht voran treiben oder sich lieber wieder auf die eigentliche Zielsetzung des Projekts – die Beobachtung von Neutrino-Oszillationen – konzentrieren soll. Die Konkurrenz schläft jedenfalls nicht: MINOS sollte mit neuer Analyse und neuen Daten in 4 bis 6 Monaten prinzipiell in der Lage sein, das OPERA-Resultat signifikant auszuschließen – sollte es allerdings wahr sein, wären die MINOS-Daten zu schlecht, um es klar zu bestätigen. Physics World, Cosmic Log 7., Of Particular Significance, ABC News 6., Nature News, New Scientist 5., Forbes 4., Galileo’s Pendulum, WissensLogs 3., Degrees of Freedom 2.10., Live Unbounded, LiveScience 30., FAZ 29., Discover, New Scientist, Guardian, Sixty Symbols, DLF 28.9.2011

Gravitations-Rotverschiebung in Galaxienhaufen passt zur Allgemeinen Relativitätstheorie – sowie zu einer Alternative namens f(R)-Gravitation, die ohne Dunkle Energie funktioniert – aber nicht zu den bei Dunkel-Materie-Zweiflern populären Alternativen MOND bzw. TeVeS: Das ist die vorläufige Schlussfolgerung aus der Beobachtung von Galaxien in 8000 Haufen. Das Licht derjenigen näher an den Haufenzentren hat mehr „Mühe“ gegen das Schwerkraft-Potential anzukämpfen und hinaus zu kommen als das von randständigen Galaxien – dieser Effekt erlaubt zusammen mit den anderweitig bestimmten Massen der Haufen einen Test der Gravitationstheorien. Wie klar ‚Einstein‘ vorne liegt, darüber gehen angesichts der doch eher schwachen Gravitations-Rotverschiebung die Meinungen allerdings auseinander. (Physics World, Science 2.0 28., Wojtak & al., Preprint 29.9.2011)

Tevatron aus, Planung für den LHC – und die ferne Zukunft

der Teilchenbeschleuniger: Nach 28 Jahren ist der große amerikanische am Fermilab am 30. September planmäßig still gelegt worden (dürfte aber dank der bis zu letzt gewonnenen Kollisionsdaten noch rund 100 Papers produzieren), während beim LHC bereits die nächsten Phasen vorbereitet werden. Dreimal wird der Large Hadron Collider in den kommenden 10 Jahren länger abgeschaltet: 2013/14, um ihn für 7 TeV pro Beam fit zu machen, 2017 oder 18 für weitere Verbesserungen und 2021. Dann wird der Beschleuniger in den sog. High Luminosity LHC (HL-LHC) umgebaut, mit viel mehr Teilchen in einem besser kollimierten Strahl ab 2022. Und es gibt sogar die Vision für einen High Energy LHC (HE-LHC) in den 2030-er Jahren mit 16.5 TeV/Strahl: Wann der allerdings kommen wird, hängt stark von den künftigen Entdeckungen von LHC und HL-LHC (und natürlich der Finanzierung) ab.

Zugleich wird – weltweit – auch über den nächsten großen Linearbeschleuniger für Elektronen und Positronen nachgedacht, dessen Machbarkeit angesichts knapper Kassen aber wieder in weitere Ferne gerückt. Doch Kollisionen von fundamentalen Partikeln (nicht den komplizierten Protonen des LHC) wünschen sich die Physiker langfristig schon: Das ist viel effizienter zum Produzieren neuer Teilchen. Manche – am Fermilab z.B. – träumen daher von einem Beschleuniger für Myonen, die halt so schnell werden müssen, dass ihre in Ruhe kurze Lebensdauer kein Hinderungsgrund mehr ist. Mit der 200-fachen Elektronenmasse (und 1/10 der Protonenmasse) sollten sie sich im Ring eher wie Protonen verhalten. (Reuters 6., Daily Mash 4., News24, Quantum Diaries 3., Discovery 1.10., Physics World, Chicago Tribune, Nature Blog, Reuters 30., Symmetry Breaking, Physics World, Observations 29., Ars Technica 28., BR 26.9.2011. Und CERN Bulletin 26.9.2011 zum TOTEM-Experiment mit dem LHC, bei dem das Wachstum des Protons bei hoher Energie bestätigt wurde)

Rasende Neutrinos: Und wo steckt der Fehler …?

27. September 2011

Noch hat niemand einen offensichtlichen Fehler in der Arbeit mit den überlichtschnellen Neutrinos (weitere Pressemitteilungen von Uni Bern und CNRS) aufzeigen können, weder auf dem CERN-Seminar – eine Aufzeichnung des Webcasts und ein Live-Blog zum Nachlesen – noch später auf wissenschaftlichen Kanälen; dort hat ein Physiker sogar eine zunächst geäußerte Kritik an der statistischen Auswertung theatralisch zurück gezogen, nachdem man ihn eines bessern belehrte. Die OPERA-Wissenschaftler konnten der Fachwelt für’s erste plausibel machen, dass sie den Abstand zwischen der Neutrinoquelle am CERN und dem Detektor im Gran-Sasso-Tunnel wirklich mit GPS-Geodäsie auf 20 cm genau bestimmen und alle Verformungen des Erdkörpers durch geophysikalische Effekte herausrechnen konnten. Und dass sie die Zeitmessungen von Abflug und Ankunft der Neutrinos Nanosekunden-genau im Griff haben, so dass an der 60 ns „zu frühen“ Ankunft nicht zu deuteln ist.

Ganz anders als 2007 beim Experiment MINOS, das auch einen marginalen Effekt sah, der aber als nicht signifikant verbucht worden war. Die konkreteste Kritik an OPERA bezieht sich auf den Zeitpunkt des Abflugs der Neutrinos am CERN, der ein vergleichsweise langwieriger und komplizierter Prozess ist: Kann die Flugzeit wirklich mit statistischen Methoden auf ein Dutzend Nanosekunden genau angegeben werden? Andere häufige Kritik hat gar nichts mit dem OPERA-Experiment selbst zu tun sondern beruft sich auf die Supernova 1987A: Wären deren Neutrinos um denselben Faktor schneller als das Licht gewesen wie es diejenigen bei OPERA zu sein scheinen, dann wären sie mehrere Jahre vor dem Licht der Sternexplosion eingetroffen und nicht wenige Stunden vor dem Licht. Man könnte natürlich Hypothesen mit einer Energieabhängigkeit der Neutrinogeschwindigkeit konstruieren (die aus den OPERA-Daten aber nicht signifikant abzuleiten wäre), wenn man sich denn auf’s Theoretisieren einlässt, denn die SN-Neutrinos hatten nur 5-40 MeV, die OPERA-Neutrinos dagegen um 20 GeV.

Schon gibt es die tollsten Ideen zur Erweiterung der Speziellen Relativität und des Standardmodells der Teilchenphysik gleichermaßen, von Verletzungen der Lorentz-Invarianz und der Kausalität und zur Einbettung des Ganzen in höherdimensionale Universen, wo sich Teilchen auch mal Abkürzungen suchen könnten. Auch oft gehört: Wenn man überhaupt einer Art von Elementarteilchen ein derart merkwürdiges Verhalten zutrauen würde, dann sicher den verrückten Neutrinos. Aber erst einmal muss der angebliche OPERA-Effekt auch anderswo auftreten: Bei MINOS werden bereits deutlich genauere Zeitmessungen als früher vorbereitet – aber das dauert mindestens bis 2014. Doch schon in 4-6 Monaten soll es eine neue Analyse von weiteren MINOS-Daten geben, die bis jetzt aufgenommen worden, immerhin 10-mal mehr als in das 2007-er Paper eingingen. Die „überlichtschnellen Neutrinos“ dürften also bald wieder von sich hören lassen.

Nature News, Neutrino Science 27., Scientific American, IdeaLab, Starts with a Bang, Popular Science, Embargo Watch 26., Science 2.0 25., Principles, Cat Dynamics, Guardian (mehr), Discovery, Strudel, Centauri Dreams, Huffington Post, LA Times Blog, Cosmic Variance, FAZ, Spiegel 24., Resonaances, Cosmic Variance, Wired, New Scientist (früher), Economist, Guardian, NYT, Ask a Mathematician, Centauri Dreams, Ars Technica, Telegraph, Quantum Diaries, Life Unbounded, IO9, Live Science, Principles, Science Journalism Tracker, Center for Inquiry, News Biscuit, BdW, Spiegel, Der Westen, TAZ, Welt, ZEIT, Blick, WDR 5 23., Live Science 22., Science 2.0 19.9.2011. Außerdem Quantum Diaries 16., ATLAS Blog 21.9.2011 zur vergleichsweisen „Routine“ des LHC, EPFL Release 21.9.2011 zu Beziehungen des Higgs zum Kosmos und Nature News 21., ScienceJournalism Tracker 22.9.2011 zur Abschaltung des Tevatron in 3 Tagen – das laut Science 23.9.2011 S. 1687-8 zwar solide Wissenschaft (mit der Bestätigung fehlender Bausteine des Standardmodells) keine keine Nobelpreis-verdächtigen Entdeckungen produziert hat

Nachrichten aus der Teilchenphysik kompakt

12. Juni 2010

Die erste Oszillation eines Neutrinos in ein anderes beobachtet

Neutrino-Oszillationen, die Umwandlung eines Typs in einen anderen, sind schon von etlichen Experimenten nachgewiesen worden: indem weniger Neutrinos eines bestimmten Typs gemessen wurden, als man erwarten sollte. Offenbar hatten sich welche in den nicht nachweisbaren Typ verwandelt, was auch die Erklärung des berühmten Sonnenneutrinoproblems ist. Dies sind als „disappearance“-Experimente, aber nun meldet das erste „appearance“-Experiment einen Erfolg: In einem gewaltigen Strom von Muon-Neutrinos, die ein Beschleuniger des CERN in Richtung des 723 km entfernten OPERA-Detektors im Gran-Sasso-Tunnel schickte, war am 22. August 2009 genau ein Tau-Neutrino aufgetaucht. Das hatte sich in OPERA (aus 150’000 Platten Fotoemulsion zwischen Bleiplatten) in ein Tau-Lepton verwandelt, das wiederum in Muonen zerfiel, die nachgewiesen wurden – allerdings beträgt die Wahrscheinlichkeit noch 2%, dass dies ein Irrtum ist. Das Experiment läuft bereits seit 2006 und wird noch mehrere Jahre fortgesetzt – aber mit mehr als 10 Tau-Neutrinos wird auch am Ende nicht gerechnet. Unterdessen hat, ebenfalls im Gran-Sasso-Tunnel, mit ICARUS ein anderes Experiment den Betrieb aufgenommen, das ebenfalls – mit ganz anderer Technik – Neutrinooszillationen aber auch andere exotische Partikel und sogar ggf. den Protonenzerfall nachweisen können soll. (CERN [Video], INFN Releases 31.5., Berkeley Release 3.6.2010; Scientific Blogging 27.5., Nature Blog, Science News, New Scientist, Welt der Physik, DLF 1., Physics World, Tracker 2., Discovery 10.6.2010)

Immer neue Ergebnisse des Large Hadron Colliders aber – natürlich – noch keine neuartigen Entdeckungen des neuen Beschleunigers („Immer höhere Kollisionsraten …“) werden inzwischen berichtet: Innerhalb von 2 Monaten hat der LHC gewissermassen fast die gesamte Teilchenphysik des Standardmodells quasi wiederentdeckt. Im kommenden Jahr könnte dann die ersehnte neue Physik beginnen, wenn der LHC so robust weiter läuft wie bisher – auch wenn immer wieder mal der Strom ausfällt, so ist er doch 90% der Zeit in Betrieb. (BBC 31.5., Symmetry Breaking 8., DLF, Welt der Physik Video 9.6.2010. Und Physics World über Teilchenbeschleuniger als Messgeräte für Erdbewegungen)

IceCube misst Anisotropie der Kosmischen Strahlung – steckt der Vela-Supernova-Rest dahinter?

Teilchen der Kosmischen Strahlung, die die Atmosphäre treffen, lösen dort Muonen-Schauer aus, und die lassen es wiederum im Neutrinoteleskop IceCube („Eis-Teleskop IceCube …“) blitzen: Die Analyse von 4.3 Milliarden solcher Blitze, deren Herkunftsrichtung auf 3° genau angegeben werden kann, hat jetzt eine anisotrope Verteilung am Himmel gezeigt. Eine Erklärung wird nicht mitgeliefert, aber es könnte einen Zusammenhang mit dem Vela-SNR geben: Die ausgedehnten Überreste explodierter Sterne werden schon lange als wichtige Quellen der Kosmischen Strahlung in der Milchstraße vermutet. (Preprint 17., New Scientist 31.5.2010. Und der Wichita Eagle zum Wunsch, ein nördliches Auger-Teleskop in Kansas und Colorado zu bauen) NACHTRAG: ein sehr später Press Release.

Neue CP-Verletzung 1. fraglich und 2. irrelevant: Die vermeintlich bedeutsame Anomalie beim B-Mesonen-Zerfall, die letzten Monat erhebliches Aufsehen erregte, wird erstens von einem anderen Tevatron-Experiment gar nicht bestätigt – und selbst wenn sie wahr wäre, ist es überhaupt nicht ausgemacht, dass sie irgendetwas mit dem leichten Materie-Überschuss nach dem Urknall zu tun hätte … (Carroll, Cosmic Variance 4.6.2010) NACHTRAG: Manche haben von den Zweifeln an der DO-Anomalie noch immer nichts gehört und spekulieren munter über exotische Erklärungen.

Ein Kilogramm – für (quasi) jedermann zum Selberbauen?

Die fundamentale Einheit Kilogramm ist ein Ärgernis für die Metrologie: Bislang gibt es – im Gegensatz etwa zum Meter, das über die Lichtgeschwindigkeit definiert ist – keine Möglichkeit, unabhängig in einem Labor eins herzustellen. Immer noch ist das eine Ur-kg in Frankreich das einzig wahre, kaum einer kommt direkt dran, und man weiß auch nicht wirklich, ob es nicht im Laufe der Zeit an Masse verloren oder dazu gewonnen hat. Vorschläge für eine neue, clevere Definition des Kilogramms werden seit vielen Jahren gemacht – hier ist ein, vielleicht, besonders einfacher: Das kg möge die Masse von 2250× 28148963^3 Kohlenstoff-12-Atomen sein. Ein Kilogramm wäre dann ein 8.11 cm großer Würfel, bei dem eine Seite der Länge von 368’855’762 Atomen entspricht. (Fox & al., Preprint 27., arXiv Blog 31.5., ORF 1.6.2010)