Trotz des neuen Bosons: warum die eigentlichen Entdeckungen – hoffentlich – erst noch kommen

If it is the simplest type of Higgs, then the Standard Model […] may be the complete story of physics at the […] LHC […]. But if there is even the slightest thing about nature’s Higgs particle that is not exactly as predicted for a simplest Higgs, than this just by itself would imply that there are new particles and/or forces not included in the Standard Model. This would be a revolutionary discovery, as the Standard Model (with gravity, dark matter and neutrino masses added on) has been our best bet for four decades. […] Roughly, all we can say right now […] is that the data roughly resembles what would be expected of a Standard Model Higgs, it is therefore not possible to say the new particle is not a Standard Model Higgs, many possible alternatives to the simplest Higgs have now been ruled out by the data, though many others still remain. […] [W]e do see some deviations from the Standard Model Higgs hypothesis, but they aren’t even that statistically significant yet even if they were, there are reasons to be concerned about uncertainties from other sources than just statistics.“ (Matt Strassler, Rutgers Univ., NJ, USA)

Viel mehr kann man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen über das mit dem LHC entdeckte neue Boson: Es entspricht im Rahmen der bisherigen Mess-Statistik den Erwartungen an das Higgs-Boson des Standardmodells, und alle verdächtigen Abweichungen seiner Zerfalls-„Kanäle“ von der Theorie sind derzeit bei weitem nicht signifikant, einfach weil die Zahl der beobachteten mutmaßlichen Higgse – rund 200! – und ihrer Zerfälle noch gering ist. Dass das Teilchen an sich überhaupt mit haarscharf 5 Sigma bis Ende Juni nachgewiesen werden konnte, hat die meisten Physiker überrascht, aber die drei Monate LHC-Betrieb mit 8 TeV 2012 haben die gesamte Ausbeute mehr als verdoppeln können, und ‚die Natur‘ kam dem LHC mit einer Teilchen-Masse von 125-126 GeV entgegen. (Der Tevatron hätte übrigens noch Jahre laufen müssen, um das Teilchen mit 5 Sigma fest zu nageln, und der LHC-Vorgänger LEP hätte es nie geschafft. Der nicht zu ende gebaute SSC der USA allerdings um so schneller.) Der klarste Nachweis des neuen Teilchens basiert für die LHC-Detektoren ATLAS wie CMS auf seinem Zerfall in ein Photonenpaar – was zugleich beweist, dass es sich um ein Boson handelt, das schwerste je gefundene – und in zwei Z-Bosonen, die jeweils gleich wieder in zwei Leptonen zerfallen.

Zu weiteren Zerfallskanälen hat sich ATLAS am 4. Juli nicht geäußert, CMS schon – was am Ende die Gesamtsignifikanz des Teilchennachweises wieder knapp unter 5 Sigma drückte, denn auf den zusätzlichen Kanälen tut sich zu wenig. Insbesondere fehlen Paare aus W-Bosonen – während gleichzeitig CMS wie ATLAS ‚zu viele‘ Photonenpaare meldeten. Aus diesen Abweichungen haben manche externen Physiker schon keck auf eine Reihe alternativer Interpretationen des Teilchen – etwas als Superpartner des Top-Quarks – geschlossen, die allerdings alle keinen nennenswert besseren Fit der LHC-Daten als das Standardmodell-Higgs liefern. Da hilft nur: weiter messen, und da das CERN-Management dem LHC noch 2 bis 3 zusätzliche Monaten Kollisionen vor der zweijährigen Abschaltung 2013/14 geschenkt hat, sollte bis Jahresende die Zahl der beobachteten Kollisionen abermals verdoppelt worden und schon etwas mehr über das neue Teilchen zu sagen sein. Insbesondere werden die Winkel, in denen die Photonenpaare davon schießen, eindeutig entscheiden lassen, ob man es wirklich mit dem Higgs-Boson (mit dem Spin 0) oder aber einem anderen Boson mit Spin 2 zu tun hat; letzteres machen Beobachtungen am Tevatron allerdings unwahrscheinlich.

Während die physikalische Welt einerseits die offensichtliche Bestätigung der fast 50 Jahren alten Idee des Higgs-Mechanismus feiert (der die Symmetrie der elektroschwachen Wechselwirkung bricht und das Standardmodell überhaupt erst mathematisch möglich macht), schwebt zugleich das „Alptraum-Szenario“ im Raum: In dem findet der LHC exakt das Higgs-Teilchen des Standardmodells – und sonst gar nichts. Da muss aber etwas sein, denn das Standardmodell – so perfekt es die bekannten Teilchen und Kräfte beschreibt – ist eindeutig nicht der Weisheit letzter Schluss und auch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur ultimativen Theorie von Allem. Also ruhen die Hoffnungen der meisten auf den nächsten Jahren LHC-Betrieb, ab 2015 dann auch mit 14 TeV, auf dass klare Differenzen zwischen dem neuen Boson und dem hypothetischen Standard-Higgs oder auch weitere Teilchen jenseits des Standardmodells entdeckt werden mögen. Die Grundidee des Higgs-Mechanismus – ein universales skalares Higgs-Feld, das anderen Teilchen Masse verleihen kann (durch einen Prozess der entfernt an Lichtbrechung erinnert: das von Peter Higgs selbst favorisierte Analogon) – mag dabei neu interpretiert werden müssen.

Die einfachste Variante der popularen Standardmodell-Erweiterung Supersymmetrie ist zwar durch den ausbleibenden Nachweis irgendwelcher ihrer Teilchen durch den LHC inzwischen arg in Bedrängnis geraten, aber viele andere Versionen bleiben im Spiel: Schließlich hat man im Prinzip hunderte von freien Parametern, an denen gedreht werden kann. In exotischen Szenarien könnte es dann bis zu 5 verschiedene Higgs-Teilchen geben (von denen jetzt gerade das erste entdeckt worden wäre), oder das Higgs-Boson bestände aus mehreren Unterteilchen. Die Frage ist nur, wie weit der LHC bei der Aufklärungsarbeit kommen wird: Da bei seinen Proton-Proton-Kollisionen jeweils 6 Quarks plus Gluonen im Spiel sind, überlagert die Signale von Higgs wie ggf. neuer Physik eine Unmenge komplizierter Hintergrund. Besser wäre ein linearer Elektronen-Collider für klarere Signale, aber der würde mit der nötigen Energie 10 bis 20 Mrd. Euro kosten. Eine potenzielle Alternative wäre ein kompakter Myonen-Collider, der speziell auf das neue Boson zu geschnitten werden könnte (so es denn überhaupt gelingt, die quirligen Myonen auf Kurs zu bringen).

Solch eine „Higgs-Fabrik“ würde aber wieder gegenüber einem Universalinstrument das Risiko bergen, andere Effekte zu übersehen, die nicht mit dem 125-GeV-Boson zusammen hängen: Über den besten Weg nach vorn wurde bereits am Tag der Enthüllung des LHC-Bosons emsig debattiert. Die LHC-Forscher selbst sind jedenfalls optimistisch, ihr kompliziertes Gerät so gut im Griff zu haben, dass sie auch mit dem existierenden Beschleuniger die Physik noch entscheidend voran und in die neue Welt jenseits des Standardmodells tragen können: Das neue Boson ist dabei ein gewichtiger Meilenstein, aber vielleicht bzw. hoffentlich nur der erste von vielen. „The cold water of experiment may now wash away many of our wrong ideas and, perhaps more importantly, could point us in the right direction,hofft der bekannte US-Physiker Lawrence Krauss: „In the process I expect what we will discover about the universe may currently be beyond our wildest dreams. More than this, however, the Higgs field implies that otherwise seemingly empty space is much richer and weirder than we could have imagined even a century ago, and in fact that we cannot understand our own existence without understanding ‚emptiness‘ better.

Ein Essay, ein Artikel und Spektrum-Allerlei 13., Swansea TV, ein Entscheidungs-Schema, ein Chat-Transkript und Artikel hier, hier, hier 12., ein Veranstaltungsbericht und Artikel hier, hier, hier, hier, hier, hier 11., Artikel hier, hier, hier, hier, hier, hier 10., eine komplette Higgs-PK in Edinburgh, eine PM des KIT, ein ICHEP-Bericht (Screenshots hier & hier & hier) und Artikel hier, hier, hier, hier, hier, hier 9., ein Paper von Akula & al., ein Radio-Skript und Artikel hier, hier, hier, hier 8., Artikel hier, hier und hier 7., Videoclips von CERN, Edinburgh und FermiLab, Artikel hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und ein Videoclip 6., ein Paper von Buckley & Hooper, STFC, Brown und Univ. of Buffalo Releases, Artikel hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und ein Videoclip 5., ein Paper von Low & al., ATLAS Blog, Weizmann Inst., KIT und Kansas State Univ. Releases, Artikel hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, ein Videoclip und eine bizarre Statistik 4.7.2012

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3 Antworten to “Trotz des neuen Bosons: warum die eigentlichen Entdeckungen – hoffentlich – erst noch kommen”

  1. “Ein Abend mit dem Higgs-Teilchen” – so muss Wissenschafts-Vermittlung sein! « Bonner Sterne Says:

    […] NACHTRÄGE: eine Webseite des Physikalischen Instituts und ein weiterer Bericht vom Abend – und ein erstes großes Fazit zum Stand der Higgsologie] Share this:TwitterFacebookGefällt mir:Gefällt mirSei der Erste dem […]

  2. vmguptaphy Says:

    May I invite you to review my essay at http://fqxi.org/community/forum/topic/1326
    I look forward to your comments and rating of the essay.

    Thanks & Best Regards,
    Vijay Gupta

  3. XENON100 hat immer noch keine WIMPs gefunden « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] Physiker gehofft haben, aber so ist es eben nicht gekommen. Der Super-Beschleuniger hat bisher letztlich nur bestätigt, was eh die meisten glaubten, und nach der Feierlaune Anfang des Monats bricht sich nun wieder die Besorgnis Bahn, dass nach dem […]

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