Rasende Neutrinos: Und wo steckt der Fehler …?

Noch hat niemand einen offensichtlichen Fehler in der Arbeit mit den überlichtschnellen Neutrinos (weitere Pressemitteilungen von Uni Bern und CNRS) aufzeigen können, weder auf dem CERN-Seminar – eine Aufzeichnung des Webcasts und ein Live-Blog zum Nachlesen – noch später auf wissenschaftlichen Kanälen; dort hat ein Physiker sogar eine zunächst geäußerte Kritik an der statistischen Auswertung theatralisch zurück gezogen, nachdem man ihn eines bessern belehrte. Die OPERA-Wissenschaftler konnten der Fachwelt für’s erste plausibel machen, dass sie den Abstand zwischen der Neutrinoquelle am CERN und dem Detektor im Gran-Sasso-Tunnel wirklich mit GPS-Geodäsie auf 20 cm genau bestimmen und alle Verformungen des Erdkörpers durch geophysikalische Effekte herausrechnen konnten. Und dass sie die Zeitmessungen von Abflug und Ankunft der Neutrinos Nanosekunden-genau im Griff haben, so dass an der 60 ns „zu frühen“ Ankunft nicht zu deuteln ist.

Ganz anders als 2007 beim Experiment MINOS, das auch einen marginalen Effekt sah, der aber als nicht signifikant verbucht worden war. Die konkreteste Kritik an OPERA bezieht sich auf den Zeitpunkt des Abflugs der Neutrinos am CERN, der ein vergleichsweise langwieriger und komplizierter Prozess ist: Kann die Flugzeit wirklich mit statistischen Methoden auf ein Dutzend Nanosekunden genau angegeben werden? Andere häufige Kritik hat gar nichts mit dem OPERA-Experiment selbst zu tun sondern beruft sich auf die Supernova 1987A: Wären deren Neutrinos um denselben Faktor schneller als das Licht gewesen wie es diejenigen bei OPERA zu sein scheinen, dann wären sie mehrere Jahre vor dem Licht der Sternexplosion eingetroffen und nicht wenige Stunden vor dem Licht. Man könnte natürlich Hypothesen mit einer Energieabhängigkeit der Neutrinogeschwindigkeit konstruieren (die aus den OPERA-Daten aber nicht signifikant abzuleiten wäre), wenn man sich denn auf’s Theoretisieren einlässt, denn die SN-Neutrinos hatten nur 5-40 MeV, die OPERA-Neutrinos dagegen um 20 GeV.

Schon gibt es die tollsten Ideen zur Erweiterung der Speziellen Relativität und des Standardmodells der Teilchenphysik gleichermaßen, von Verletzungen der Lorentz-Invarianz und der Kausalität und zur Einbettung des Ganzen in höherdimensionale Universen, wo sich Teilchen auch mal Abkürzungen suchen könnten. Auch oft gehört: Wenn man überhaupt einer Art von Elementarteilchen ein derart merkwürdiges Verhalten zutrauen würde, dann sicher den verrückten Neutrinos. Aber erst einmal muss der angebliche OPERA-Effekt auch anderswo auftreten: Bei MINOS werden bereits deutlich genauere Zeitmessungen als früher vorbereitet – aber das dauert mindestens bis 2014. Doch schon in 4-6 Monaten soll es eine neue Analyse von weiteren MINOS-Daten geben, die bis jetzt aufgenommen worden, immerhin 10-mal mehr als in das 2007-er Paper eingingen. Die „überlichtschnellen Neutrinos“ dürften also bald wieder von sich hören lassen.

Nature News, Neutrino Science 27., Scientific American, IdeaLab, Starts with a Bang, Popular Science, Embargo Watch 26., Science 2.0 25., Principles, Cat Dynamics, Guardian (mehr), Discovery, Strudel, Centauri Dreams, Huffington Post, LA Times Blog, Cosmic Variance, FAZ, Spiegel 24., Resonaances, Cosmic Variance, Wired, New Scientist (früher), Economist, Guardian, NYT, Ask a Mathematician, Centauri Dreams, Ars Technica, Telegraph, Quantum Diaries, Life Unbounded, IO9, Live Science, Principles, Science Journalism Tracker, Center for Inquiry, News Biscuit, BdW, Spiegel, Der Westen, TAZ, Welt, ZEIT, Blick, WDR 5 23., Live Science 22., Science 2.0 19.9.2011. Außerdem Quantum Diaries 16., ATLAS Blog 21.9.2011 zur vergleichsweisen „Routine“ des LHC, EPFL Release 21.9.2011 zu Beziehungen des Higgs zum Kosmos und Nature News 21., ScienceJournalism Tracker 22.9.2011 zur Abschaltung des Tevatron in 3 Tagen – das laut Science 23.9.2011 S. 1687-8 zwar solide Wissenschaft (mit der Bestätigung fehlender Bausteine des Standardmodells) keine keine Nobelpreis-verdächtigen Entdeckungen produziert hat

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4 Antworten to “Rasende Neutrinos: Und wo steckt der Fehler …?”

  1. Thorsten Kirchhoff Says:

    Ich wundere mich darüber, dass offensichtlich bisher Niemand den Artikel von Carlo R. Contaldi kennt: Dort wird aufgezeigt, dass die OPERA-Kollaboration einige fundamentale Dinge nicht beachtet hat, die mit der Synchronisation der verwendeten Uhren zu tun haben: „The OPRA neutrino velocity result and the synchronisation og clocks“ arXiv:1109.6160v2 [hep-ph]

  2. skyweek Says:

    Oh, auf dieses Paper haben schon einige Artikel hingewiesen, etwa dieser und dieser – es gibt auch eine Menge anderer Detailkritik am Experiment, die ich aber noch sammle.

  3. Neutrino-Raserei bleibt rätselhaft: subtiler Fehler? « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] zwei Wochen nach der Veröffentlichung der vermeintlich überlichtschnellen Neutrinos gibt es keine heiße Spur, was da wohl – wie das Gros der Physiker weiterhin vermutet – […]

  4. Die irre Saga der rasenden Neutrinos ist … vorbei! « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] Offen sind jetzt nur noch Fragen, wie der Fehler jahrelang(!) übersehen werden konnte, ob die Veröffentlichung des Pseudo-Mysteriums letzten September gerechtfertigt war oder nicht – und ob die Aufklärung, die OPERA-intern schon letzten […]

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