Rasende Neutrinos schaffen neuen OPERA-Test

Nur 20 eindeutige Neutrinos aus dem CERN hat der OPERA-Detektor im Gran-Sasso-Tunnel während der Sondermessungen mit den scharfen Pulsen vom 22. Oktober bis 6. November einfangen können, aber diesmal war von jedem die Abflugszeit auf 3 Nanosekunden genau bekannt: Und wieder kamen sie 62±4 Nanosekunden ‚zu früh‘ an, konsistent mit dem 58±8 ns Verfrühung der 10 ms langen Neutrinopulse im regulären Experiment mit 15’233 detektierten Neutrinos. An falscher statistischer Analyse von deren Pulsform liegt die vermeintliche leichte Überlichtgeschwindigkeit der OPERA-Neutrinos also nicht. Der restliche Versuchsaufbau und der Gang der Auswertung waren bei dem Sondertest natürlich unverändert: Wenn z.B. – das bleibt der häufigste Verdacht – etwas mit der Synchronisation der Uhren bei CERN und OPERA nicht stimmt oder bei der Berücksichtigung von Signallaufzeiten in langen Kabeln, hätte dies wieder zum selben Phantom-Effekt geführt. Anhand der detaillierten Versuchsbeschreibung im jetzt zur Veröffentlichung eingereichten Paper hat bislang niemand Außenstehender einen offensichtlichen Fehler gefunden, während sich im OPERA-Team inzwischen die meisten mit dem kuriosen Ergebnis abgefunden und das Paper unterzeichnet haben. Ihnen ist aber genauso wie dem Rest der physikalischen Gemeinde klar, dass erst eine unabhängige Messung des Effekts mit einem ganz anderen Experiment aus der (immerhin 6.2 Sigma großen) Anomalie eine Entdeckung – dann freilich epochalen Ausmaßes – machen würde.

Beim vergleichbaren US-Experiment MINOS werden entsprechende Präzisionsmessungen der Neutrino-Flugzeiten bereits emsig vorbereitet, und es könnte schon in ein paar Monaten (nach anderen Quellen: im Sommer 2012) Ergebnisse geben, während möglicherweise auch das japanische Experiment T2K – mit leiderer kürzerer Flugstrecke seiner Neutrinos – ausreichend genau messen können wird. Und was, wenn MINOS et al. OPERA am Ende klar widerlegen? Dann wird es vielleicht für immer unklar bleiben, was dessen Anomalie zu verantworten hat, wie schon bei so manchem von der Geschichte überrollten physikalischen Sensationsexperiment. Es kann etwas furchtbar simples und zutiefst Menschliches sein, was da schief gelaufen ist, vielleicht nicht mehr als ein Zahlendreher beim Aufsummierungen all der technischen Signalverzögerungen … Science 2.12.2011 S. 1200-1; Symmetry Breaking 1.12., DLF 28., Physics World 22., AstroBites, New Scientist Blog, Telegraph 21., Reuters 20., Telegraph 19., STFC Release, Interactions, Physics World, NYT, Nature Blog, BBC, Guardian, Starts with a Bang, Universe Today, Principles, Wired (mehr), AFP, New Scientist, Science Journalism Tracker 18., revidiertes OPERA-Paper, Symmetry Breaking, Science Insider, Quantum Diaries, Cosmic Log 17.11.2011. Und ein Experiment-Vorschlag zum Nachweis steriler Neutrinos

Die nächste Beinahe-Entdeckung des Higgs (bei 125 GeV)

wird womöglich am 13. Dezember in Genf verkündet: Da werden die Teams der beiden LHC-Hauptdetektoren ATLAS und CMS ihre Ergebnisse des kollisionsreichen Jahres 2011 präsentieren – und mehrere einschlägige Physikblogs haben bereits erfahren, dass beide ein mutmaßliches Signal des Higgs-Teilchens bei 126 GeV (ATLAS, mit 3.5 Sigma) bzw. 124 GeV (CMS, mit 2.5 Sigma) sehen. Das wäre im physikalischen Sprachgebrauch eine „Beobachtung“ aber noch lange keine „Entdeckung“, die 5 Sigma Signifikanz erfordert. Zu diesen Gerüchten passt auch ein geleaktes Rundschreiben des CERN-Chefs, wonach man am 13. zwar von „signifikantem Fortschritt auf der Suche nach dem Higgs“ hören werde aber kein eindeutiges Statement über seine Existenz oder Nichtexistenz. Immerhin hätten die ATLAS- und CMS-Detektionen zusammen eine Signifikanz von etwa 4.3 Sigma, doch von einer präzisen Zusammenführung beider Messungen von insgesamt 10 inversen Femtobarn Kollisionen („Die Proton-Proton-…“) ist man noch weit entfernt.

Im November war eine solche gemeinsame Analyse immerhin für die Kollisionen bis zum Sommer präsentiert worden: Der Energiebereich 141 bis 476 GeV ist demnach mit mindestens 95% Sicherheit ausgeschlossen und der Großteil von 146 bis 443 GeV zu 99%, während Energien bis 132 GeV hinab noch zu 90% ausgeschlossen waren. Damit war eigentlich nur noch der Bereich 114 bis 132 GeV als ‚Rückzugsgebiet‘ für das Higgs übrig geblieben: Sollte es dort tatsächlich residieren, würde dies auch den meisten Erwartungen entsprechen – und würde den Freunden der Supersymmetrie (für die der LHC noch gar keine Hinweise fand) einigen Spielraum lassen. (Nature, Strassler Blogs 4., Strassler Blog 3., Vixra, Woit, MOTLS Blogs, Wired, Quantum Diaries [mehr] 2., BBC, Guardian, Telegraph, Physics World 1.12., Woit Blog 30., Space.com, NYT 28., CERN Courier, Quantum Diaries, Reuters 23., Physics World Blog, BdW, MPG-Interview 22., ATLAS = CMS Joint Analysis, Nature, Woit Blog, Quantum Diaries 18., Telegraph, LiveScience 17., Giudice, Preprint 15.11.2011. Und eine PM des PSI zur Nichtbeobachtung sehr seltener Zerfälle, was zum Standardmodell passt)

Die astronomische Beobachtung zerfallender Teilchen der Dunklen Materie bleibt widersprüchlich, zeigen gleich drei Ergebnisse zu diesem Labor-Nachweis-Versuchen komplementären Weg: So hat der Satellit Fermi zwar den Positronen-Überschuss PAMELAs bestätigt („Der Satellit …“) – aber diese vermeintlichen Produkte der gegenseitigen Vernichtung von DM-Teilchen sieht er auch bei viel größeren Energien, was für enorme Massen und damit eher eine andere Erklärung spricht. Mit Fermi wurden auch etliche Zwerggalaxien betrachtet und dort nur geringe Gamma-Strahlung festgestellt: Wenn diese bei der gegenseitigen Vernichtung von DM-Teilchen untereinander entsteht, müssten diese rar und mithin (nach einer Analyse-Methode jedenfalls) mindestens 40 GeV schwer sein, um zusammen den in den Galaxien beobachteten Gravitationseffekt auf zu bringen – im Widerspruch zu den angeblichen 3 Labornachweisen von DM-Teilchen mit deutlich geringeren Massen. Und das Ballon-Experiment ARCADE hat wiederum angebliche Radiostrahlung von DM-Vernichtungsprodukten in den Magnetfeldern von Galaxienhalos gesehen, die immerhin zu den Teilchenmassen der 3 Laborexperimente passen würde. (Kavli Release [mehr] 28., Brown Univ. Release 23.11.2011; Nature Blog, LA Times 2., Physics World 1.12., Space.com 30., New Scientist 29., Science Now 22.11.2011. Und ein ASPERA Release zu Forderungen der Astro-Teilchenphysik)

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3 Antworten to “Rasende Neutrinos schaffen neuen OPERA-Test”

  1. Wo die Jagd auf’s Higgs Ende 2012 angekommen ist « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] wie die ziemlich präzisen Gerüchte („Die nächste Beinahe-Entdeckung des Higgs (bei 125 GeV)“) besagt hatten, wurde am 13. […]

  2. Zwei Fehlerquellen bei OPERA entdeckt – könnten Neutrinos schneller aber auch langsamer erscheinen lassen! « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] das Licht vom CERN nach Italien reisen – oder aber, dass sie sogar noch mehr als die bislang immer wieder gemessenen 60 Nanosekunden ‘Vorsprung’ vor einem hypothetischen Lichtquant auf gleicher Strecke haben. Erst neue […]

  3. Die irre Saga der rasenden Neutrinos ist … vorbei! « Skyweek Zwei Punkt Null Says:

    […] nur eine untergeordnete Rolle. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände trat bei den Spezialexperimenten mit Neutrinopulsen genau derselbe Zeitfehler auf, so dass die Überlichtgeschwindigkeit scheinbar perfekt bestätigt […]

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